Es ist wohl Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet Martin Winterkorn über einen Technik-Skandal nicht gekannten Ausmaßes stolpert. Er, der geniale Tüftler, der Pedant, dem nachgesagt wird, er kenne jedes einzelne Auto des großen VW-Konzerns bis ins kleinste Detail, jede Schraube. Wer Winterkorn einmal in Aktion erlebt hat, weiß, dass das mehr als nur eine Legende ist.
Penibel, akribisch, auf der Suche nach der perfekten Lösung ist Winterkorn ein unnachgiebiger, unbequemer Chef gewesen. Eine Eigenschaft, die schon zu Beginn seiner Karriere im Konzern maßgeblich für seinen heutigen Erfolg ist. Nach seinem Studium der Metallkunde und Metallphysik an der Universität Stuttgart heuert er 1981 bei Audi an, zunächst als Assistent des Vorstandes. Er soll dort die Qualität absichern – und damit den "Vorsprung durch Technik", mit dem der damalige Vorstandschef Ferdinand Piëch die Ingolstädter zu einem Konkurrenten von BMW und Mercedes aufbauen wollte. Den Allradantrieb Quattro, vollverzinkte Karosserien oder die ersten deutschen TDI-Motoren, ohne Winterkorn wären sie kaum möglich gewesen.

Winterkorn fordert immer 100 Prozent, oft noch mehr

Er wechselt mit Piëch nach Wolfsburg, kehrt aber schon bald zurück nach Ingolstadt – diesmal als Vorstandvorsitzender von Audi. Hier verkürzt er geschickt den Abstand zu den deutschen Premium-Konkurrenten, der Aufstieg von Audi kennt kaum eine Grenze. Auch, weil er immer einhält, was die technischen Lösungen versprechen. Oft sind sie cleverer als die der Konkurrenten, hier ist Winterkorn, geboren in Leonberg, ganz schwäbischer Tüftler. Er ist ein Getriebener, auf der Suche nach dem Optimum. Dabei geht er, auch im Umgang mit seinen Mitarbeitern, oft an die Grenze des Erträglichen. Sie berichten von regelrechten Kreuzverhören und Angstschweiß auf der Stirn, wenn ihm neue Entwicklungen präsentiert werden. Winterkorn fordert immer 100 Prozent, oft mehr. Er ist ein herrischer Herrscher, berichtet sein Umfeld. Einer, dem es um die Sache geht, nicht um einen gepflegten Umgangston.

Piëch und Winterkorn: Ein kongeniales Duo

Fast schon erschreckend ähneln sich Winterkorn und sein Förderer Ferdinand Piëch. Gemeinsam regieren sie ab November 2006 ein Reich, das nur ein Ziel kannte: Die Nummer eins der Welt werden. Piëch hält Winterkorn als Vorsitzenden des Aufsichtsrats den Rücken frei, Winterkorn regelt als Vorstands-Chef das Tagesgeschäft ganz im Sinne Piëchs. Ein kongeniales Duo, das zwölf Marken fein ausbalanciert und fast schon nebenbei erst die Übernahme von Porsche abwehrt und dann den Sportwagenbauer selbst schluckt. Fast hätte man nach dieser gemeinsam geschlagenen Schlacht denken können, die beiden sind Freunde.
VW ist sein Leben
"Ich bin auf Distanz zu Winterkorn": Mit diesem Ausspruch Ferdinand Piëchs begann das Ende einer Ära.
Dafür aber scheint es in der Welt von Volkswagen aber keinen Platz zu geben. Als im Frühjahr 2015 die Bombe platzt, dass Piëch "auf Distanz zu Winterkorn" sei, ahnten viele, das eine Ära zu Ende geht. Volkswagen sei nicht fit genug für die Zukunft, meinte Piëch – und Winterkorn der Falsche, um den riesigen Konzern neu auszurichten. Den folgenden Machtkampf aber gewann Winterkorn und blieb im Amt. Wer ihn danach erlebte, sah einen neuen Martin Winterkorn. Nachdenklich, grüblerisch, und vor allem menschlich zeigte er der Welt auf der IAA Mitte September 2015 eine ganz neue Seite. Fest davon überzeugt, das Richtige zu tun, der Richtige zu sein.
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Bis zuletzt hat er um den Chefsessel gekämpft

Vor allem müde war er nicht geworden, trotz seiner 68 Jahre. Bis zuletzt hat er gekämpft, den Thron in Wolfsburg nicht verlassen zu müssen. Wohl wissend, dass der Neuanfang bei Volkswagen nach dem Skandal um manipulierte Abgaswerte bei Dieselmotoren ein frisches Gesicht braucht, selbst wenn er sich persönlich nichts vorzuwerfen hat. Nach seinem Rücktritt sagt er, Volkswagen war, ist und bleibt sein Leben. Oder anders gesagt: sein Schicksal.

Von

Stefan Voswinkel