Ein "Automobil-Konzept ohne Vorbild"

Von Hermann J. Müller Wir schreiben den 8. Dezember 1982. Zwei Tage nach Nikolaus gibt es im Hause Mercedes-Benz eine Bescherung der ganz besonderen Art. Unter dem Stern von Untertürkheim präsentiert die Nobelmarke dem staunenden Publikum nach eigenem Bekunden ein "Automobil-Konzept ohne Vorbild". Wer jedoch aufgrund der vollmundigen Ankündigung ein PS-Monster oder eine Luxussänfte erwartet hat, wird milde enttäuscht. Auf dem Gabentisch parkt eine schlichte Limousine: bescheidene 4,42 Meter kurz, erschütternde 90 PS schwach, wohlfeile 25.538 Mark billig.

Es war, als ginge die Sonne im Westen auf. Einen kleinen Mercedes-Benz hatte es noch nie gegeben. Und er war nicht nur klein, er sah auch – zumindest für bis dato gewohnte Mercedes-Benz-Maßstäbe – billig aus. Chrom fand nur an Stern und Kühlergrill statt, die Radkappen bestanden aus schnödem Plastik, die mickrigen 14-Zoll-Räder wirkten ziemlich verloren in den ausladenden Radläufen. Trotzdem bliesen seine Väter mächtig ins Horn. Im Prospekt klang das so: "Mit dieser neuen Klasse ist es gelungen, Mercedes-Benz-Funktion und Mercedes-Benz-Qualität erstmals in einem kompakten Fahrzeug zu konzentrieren."

Kompakt, das war das Reizwort jener Jahre. Der Golf war kompakt – und verkaufte sich wie verrückt. Genau wie der 3er von BMW, in dem exakt die Leute saßen, die Mercedes-Benz gern an sich binden wollte: Junge, dynamische Menschen, die den Altersdurchschnitt der Kundschaft senken und die Stückzahlen in die Höhe treiben würden. Zudem hatte der Vorstand in Stuttgart erkannt, daß man mit einer kleinen Modellreihe neue Kunden eventuell auch schon vor dem Erreichen der Reichtumsgrenze für sich einnehmen kann.

Die Anleitung war 78 Seiten dünn

Das Resultat war die dritte Produktlinie des Hauses. Sie hörte intern auf das Kürzel W201, nach außen auf die Zahl 190. Es gab ein Basismodell mit 90 PS und Vergaser sowie das 122-PS-Topmodell mit Einspritzung und einem zusätzlichen "E" hinter dem Typenschild. Viele weitere sollten folgen, aber das war es erst mal. Und es reichte. Ob Taxifahrer, Zahnarztgattinnen oder Jungmanager – alle wollten einen 190er fahren.

Der Schock kam oft erst nach dem Kauf. Einen Mercedes-Benz hatte man bestellt und bezahlt, aber nicht wirklich bekommen. Denn von einem Auto mit dem Stern am Grill erwarteten die Kunden nun mal mehr als eine gute Federung und satt schließende Türen. Einen Hauch von Luxus beispielsweise. Doch den gab es nur gegen Aufpreis. Die Grundversion (Werksjargon: Buchhalterausstattung) besaß keine Servolenkung, die Fenster wurden gekurbelt und die Spiegel manuell verstellt.

Das riesige Lenkrad glänzte in speckig-genarbtem Kunststoff, Chrom oder gar Holz suchte man im Cockpit vergebens, die Polster gaben sich im wahrsten Wortsinn kleinkariert. Selbst die Betriebsanleitung faßte sich außerordentlich kurz: 78 Seiten reichen heute noch nicht mal für das Radio. Auch ein wenig mehr Platz wäre nett gewesen, schließlich handelte es sich nominell um einen Fünfsitzer.

Neuer Einarmwischer und ein enges Fond

Tatsächlich bildete der Mercedes-Benz 190 einen frühen Vorgriff auf den CLS von heute: Er war das erste viertürige Coupé. Groß gewachsene Chauffeure ließen den Knieraum hinter dem Fahrersitz auf lächerliche fünf Zentimeter schrumpfen. Die Kopffreiheit im Fond war ebenfalls nicht Mercedes-Benz-like: Hutträger mußten ihr bestes Stück auf der mit Nadelvlies bezogenen Ablage deponieren.

Selbst die gute alte Fußfeststellbremse fiel dem Platzmangel zum Opfer, im Fußraum war es für sie zu eng. Statt dessen ragte zwischen den Vordersitzen ein schnöder Handbremshebel hervor – wie bei einem ganz normalen Auto. Doch der Baby-Benz, wie er alsbald von manchen spöttisch, von anderen liebevoll getauft wurde, hatte auch gute Seiten. Wie etwa das Heck: Darunter verbargen sich ein immerhin 410 Liter großer Kofferraum und die Mutter aller Hinterachsen. Sie hieß Raumlenkerachse und garantierte mit fünf Querlenkern an jedem Rad eine bis dahin nicht gekannte Präzision bei der Radführung.

Zusammen mit der ebenfalls neu entwickelten Dämpferbein-Vorderachse und dem relativ langen Radstand bildete sie die wahre Attraktion des W201. Mehr Komfort bei nahezu perfektem Fahrverhalten gab es in dieser Klasse nicht zu kaufen. Ebenfalls ein Unikum, aber nicht unbedingt der Weisheit letzter Schluß, war der zentrale Scheibenwischer. Mit seiner reduzierten Mechanik sparte er zwar Gewicht, nervte aber Fahrer und Insassen mit verschlierten Scheiben und bösartigem Quietschen.

Technische Daten Mercedes-Benz 190

Unter der Motorhaube ging es eher ruhig und konventionell zu. Der auf 90 PS gedrosselte Basismotor glänzte allenfalls durch dezente Akustik, die Einspritzvariante überzeugte darüber hinaus durch gute Elastizität und standesgemäße Fahrleistungen: Mit 10,5 Sekunden für die 0-100-Disziplin und einer Höchstgeschwindigkeit von 195 km/h konnte man sich vor 22 Jahren durchaus sehen lassen. Der geneigten Kundschaft reichte es jedenfalls aus.

Neben den von den Mercedes-Benz-Marketingexperten angepeilten Jungdynamikern erwärmten sich zusehends auch viele ältere Ehepaare mit geringerem Platzbedarf für den Baby-Benz. Die meisten Taxifahrer blieben weiterhin treu und fest bei ihrem geliebten W123. Bis zur Einstellung der Modellreihe (1993) wurden über 1,8 Millionen 190er gebaut. Sie bescherten der Marke Mercedes-Benz so die zukunftsweisende Erkenntnis, daß sich auch mit kleinen Autos große Gewinne machen lassen.

Technische Daten Reihen-Vierzylinder, vorn längs eingebaut • 1977 cm³ • 66 kW (90 PS) bei 5000/min • max. Drehmoment 165 Nm bei 2500/min • Flachstrom-Vergaser • Viergang • Heckantrieb • Einzelradaufhängung • Dämpferbeine mit Dreiecklenkern vorn, Raumlenkerachse hinten • Scheibenbremsen vorn und hinten • Länge/Breite/Höhe 4420/1678/1383 mm • Räder 5 J x 14 • Reifen 175/70 SR 14 • Leergewicht 1080 kg • Höchstgeschwindigkeit 175 km/h