Allrad als Technik- und Sicherheitsplus

Audi gebührt die Ehre, den deutschen Autokäufern Pkw mit Allrad schmackhaft gemacht zu haben. Werblich unterstützt von Rallye-Erfolgen, vermarkten die Ingolstädter Allrad seit den achtziger Jahren konsequent und erfolgreich als Technik- und Sicherheitsplus. Und hielten auch durch, als in den späten neunziger Jahren viele andere europäische Pkw-Bauer mangels attraktiver Stückzahlen die Variante Allrad wieder aufgaben.

Damit pflegte Audi ein gewichtiges Verkaufsargument für die Oberklasse: Mit seinem permanent einsatzbereiten Allradantrieb war der Audi A8 jahrelang die einzige Luxuslimousine mit dieser Antriebsformel. Bis zum Herbst 2002. Da schickte erst VW sein neues Flaggschiff Phaeton mit 4x4-Antrieb ins Rennen; kurz darauf zauberte auch Mercedes eine S-Klasse mit Allrad aus dem Hut.

Den teuersten, stärksten und luxuriösesten Allrad-Pkw baut Volkswagen. Mit Zwölfzylindermotor, 420 PS und einem Grundpreis von 98.600 Euro ist der Phaeton W12 kein Volks-Wagen. Dafür gibt er vor, alles besser zu können, noch luxuriöser, komfortabler, perfekter zu sein als die Konkurrenz. Mit diesem Anspruch übernimmt er nicht nur die Rolle des bequemen Automobils für Bundeskanzler und Vorstandsvorsitzende, sondern auch die des Imageträgers. Mit ihm und dem Touareg, realisierte Ex-VW-Chef Piëch seine Vision, VW als Luxusmarke zu etablieren. Für die Erfüllung dieses Traums war ihm nichts zu teuer. Kaum ein heutiger Pkw vereinigt mehr hoch entwickelte Technik und Elektronik in sich als der Phaeton, kaum einer bietet mehr Fahrkomfort.

VW-Allrad made by Audi

Beim Allradantrieb konnten die Entwickler auf Bewährtes von der Konzernschwester Audi zurückgreifen: Der nach neuer Haus-Sprachregelung mit dem Kunstwort 4motion – gesprochen Fohrmohschen, nicht etwa Viermozion – bezeichnete Allrad des Phaeton (und des Passat) entspricht im Prinzip dem quattro genannten Antrieb von Audi. Die Antriebskraft geht dabei vom Ausgang des Getriebes erst einmal zu einem Zentraldifferenzial, das sie auf die beiden Antriebsachsen verteilt und für den in Kurven notwendigen Drehzahlausgleich zwischen vorn und hinten sorgt.

Als Ausgleichsgetriebe verwenden Audi und VW das extrem teure und aufwändige Torsendifferenzial, das sich für diesen Zweck ideal eignet. Ein normales Differenzial arbeitet nach dem Prinzip einer Kraft-Waage, indem es das Antriebsmoment immer dahin leitet, wo es am leichtesten geht – also das Durchdrehen einer Achse eher fördert als verhindert. Das Torsendifferenzial dagegen "erfühlt" gewissermaßen die Kraftübertragungsfähigkeit der Räder und leitet das Antriebsmoment zu der Achse, die gerade besser greift. Das macht es ganz ohne Elektronik. Eine sinnreiche Kombination aus Schneckenrädern und Stirn-Zahnrädern erzeugt automatisch eine interne Sperrwirkung, die für die gewünschte Kraftverteilung zugunsten der besser greifenden Achse sorgt. Mit diesem Antriebskonzept gewann Audi einst viele Rallyes.

Elektronik gibt es aber im Antrieb von VW und Audi dennoch: für die elektronische Antriebsschlupfregelung. Sie hat den Zweck, einseitiges Durchdrehen der Räder zu verhindern, wie es auf einseitig glatter Fahrbahn auftreten kann – etwa bei Eis am Fahrbahnrand. Fühler erkennen, wenn ein Rad schneller dreht als die anderen. Dann wird die zugehörige Bremse aktiviert, das Rad auf die Drehzahl seines Gegenstücks auf der anderen Seite abgebremst. So kann wieder Kraft zum gut greifenden Rad fließen, sie verpufft nicht mehr am durchdrehenden Reifen.

Mercedes-Benz setzt auf Elektronik

Der 4Matic genannte Allradantrieb des Mercedes S 500 ist einfacher aufgebaut. Ursprünglich von Steyr Puch entwickelt, wird er in ähnlicher Form auch in der M-Klasse verwendet. Bei ihm sorgt allein die Elektronik für die Kraftzuteilung an die einzelnen Räder. Der Antrieb hat ein ganz normales Zentraldifferenzial, das die vom Getriebe kommende Antriebskraft zu 40 Prozent nach vorn und 60 Prozent nach hinten leitet. Durchdrehende Räder werden per Schlupfregelung eingebremst, den anderen wird mehr Antriebskraft zugeteilt.

Zusätzlich greift bei allen drei Autos die elektronische Fahrhilfe ESP ins Antriebssystem ein. Auch sie hat Zugriff auf die Radbremsen und nimmt, falls nötig, zusätzlich Gas weg, um ein Durchdrehen der Räder zu verhindern. Allerdings ist der Sinn ein anderer: Dem ESP geht es nicht darum, den Vortrieb, sondern die Richtungsstabilität zu sichern. Deshalb will es Durchdrehen auf jeden Fall vermeiden; denn ein durchdrehendes Rad kann keine Seitenführung mehr aufbauen.

Die drei Testkandidaten waren für die Winterfahrversuche identisch bereift – unabdingbare Voraussetzung für fundierte Aussagen. Alle drei standen auf Winterreifen vom Typ Dunlop Wintersport. Gute Winterbereifung ist bei einem Allradfahrzeug unerlässlich, allein schon, um ausreichend Bremskräfte übertragen zu können.

Wenn nichts mehr geht – ESP raus

Die Tests auf Neuschnee und festgefahrener Schneedecke untermauerten eine Erkenntnis: Es kann im Extremfall sinnvoll sein, zumindest zum Freikommen das ESP abzuschalten – was in allen drei Testkandidaten möglich ist. Insbesondere auf Neuschnee, wo der Reibwert generell niedrig ist, aber zwischen den einzelnen Räder geringfügig differiert, kommt der Vortrieb womöglich zum Erliegen, weil das ESP jedes Durchdrehen im Keim erstickt.

Auf Lockerschnee ist aber ein Durchdrehen der Räder mitunter hilfreich, weil sich dadurch das Reifenprofil selbst vom Schnee reinigt und dadurch die Reifen wieder besser greifen. Bei allen drei Luxuslimousinen lassen sich Situationen herbeiführen, wo das Auto mit aktivem ESP nicht mehr anfährt, sich aber nach Abschalten der Fahrhilfe wieder aus eigener Kraft in Bewegung setzt.

Im direkten Vergleich regelt das Mercedes-System etwas rigoroser als die Antriebe von VW und Audi. Der Grund: Die Elektronik muss hier über den Bremseneingriff auch die Kraftverteilung zwischen Vorder- und Hinterachse übernehmen, die sich beim Torsen-Differenzial der beiden anderen von selbst regelt. Einfach gesagt: Hier wird mehr gebremst und weniger angetrieben. In der Praxis macht sich das aber weniger als erwartet bemerkbar, weil der Mercedes die ausgeglichenste Achslastverteilung der drei aufweist. So kommt er mit der Kraft- Grundverteilung von 40:60 schon weit, muss die Bremsen gar nicht so oft bemühen.

Einen zusätzlichen Vorteil bietet die ausbalanciertere Gewichtsverteilung des Mercedes beim Anfahren an seitlich geneigten Anstiegen, wie man sie auf Passstraßen oft antrifft, insbesondere in Kehren. Drehen hier alle vier Räder gleichzeitig und annähernd gleichschnell durch – was erst nach dem Abschalten des ESP möglich ist – drehen sich der Audi und vor allem der stark frontlastige VW mit dem schweren Bug hangabwärts. Der Mercedes rutscht eher parallel zur Seite und lässt dem Fahrer mehr Spielraum zum Gegenlenken. Auf Eis oder einer festgefahrenen Schneedecke kommt man besser voran, wenn das ESP aktiv ist. Denn hier ist jedes Durchdrehen Gift für den Vortrieb, weil haltlos rotierende Reifen den Untergrund noch mehr blank polieren und so das Weiterkommen zusätzlich erschweren.

Neuste ABS-Technik in allen drei

Kritischer als der Anstieg auf einer verschneiten Bergstraße ist mit Allradautos in jedem Fall der Abstieg. Das gilt insbesondere für Umsteiger von zweiradgetriebenen Fahrzeugen mit wenig Allrad-Erfahrung. Denn durch das scheinbar mühelose Vorankommen auf vier angetriebenen Rädern entsteht schnell ein falscher Eindruck von der Griffigkeit der Fahrbahn. Beim Bremsen gibt es dann ein böses Erwachen.

Hier kommt der Auslegung und Wirkung des ABS besondere Bedeutung zu: Nur ein optimal funktionierendes und schnell regelndes ABS kann dafür sorgen, dass jedes Rad ein Maximum an Bremskraft auf den glatten Untergrund bringt, ohne die Seitenführung zu verlieren. Dazu messen Sensoren – es sind die gleichen wie für Schlupfregelung und ESP – die Raddrehzahlen. Fällt die Drehzahl eines Rades plötzlich ab, weil es zu blockieren beginnt, wird die Bremskraft für Sekundenbruchteile reduziert.

Die drei Luxus-Limousinen führen hier beste Technik mit: Ihre ABS-Steuergeräte der neuesten Generation regeln feinfühlig, exakt und schnell, bringen die schweren Limousinen auf der verschneiten Passstraße sicher ins Tal. Einen kleinen Vorsprung bremst sich der Mercedes auf trockener Straße heraus – hier steht er im Notfall noch einen Wimpernschlag schneller als die anderen beiden.

Physik gilt auch in der Luxusklasse

Unter dem Strich weisen alle drei Kandidaten mit guten Winterreifen eine außerordentlich hohe Wintertauglichkeit auf, wie man sie noch vor wenigen Jahren nicht für möglich gehalten hätte. Die Gesetze der Physik können aber auch sie nicht außer Kraft setzen: Wenn der Reibwert des Bodens nicht ausreicht, um das Gefährt mit den vereinten Antriebskräften aller vier Räder in Bewegung zu bringen, bleiben auch sie mit hilflos scharrenden Reifen hängen.

Das Risiko früherer Allradfahrzeuge, die gut vorankamen und schlecht bremsten, ist bei den neuesten Allrad-Personenwagen weitgehend ausgemerzt. Nahezu perfekt agierende Brems- und Fahrstabilitätssysteme machen sie auch auf glattem Untergrund gut beherrschbar.

Dennoch bleibt es Tatsache: Ein größeres, gewichtigeres Fahrzeug, das außer Kontrolle gerät, lässt sich schwerer einfangen als ein kleines, leichtes Auto. Und noch eines kann auch die ausgefeilteste Antriebstechnik nicht wegleugnen: Einen auf Glätte ausbrechenden Koloss wie den Zwölfzylinder-Phaeton wieder abzufangen, schaffen nur echte Fahrkünstler.

Fazit und Wertung

Fazit Alle drei sind außergewöhnlich perfekte Autos. Dabei repräsentieren die drei Luxuslimousinen drei unterschiedliche Charaktere: Der VW Phaeton setzt ganz auf Komfort, bietet das prunkvollste und am perfektesten verarbeitete Interieur – ideal als Chauffeurswagen. Der erheblich preiswertere Audi A8 setzt mit sportlicherem Handling und angenehmem Motorklang den Akzent stärker auf den Fahrspaß, ohne bei Komfort und Raumangebot große Abstriche zu machen. Der Mercedes-Benz besticht durch seine auswogenen Qualitäten, trägt nicht so dick auf und hat den sparsamsten Motor.