Unglaublich: Dieser grandiose Lifestyle-Kombi war seinerzeit ein Flop. Deshalb ist er heute teurer als fast jeder andere Chevy. Kaum ein Kombi macht das große 50er-Jahre-Gefühl so spürbar wie dieser XXL-Ami.
Als der Nomad erschien, war sein Heimatland der unbegrenzten Möglichkeiten längst bequem und sesshaft geworden. Genau deshalb hat nur Amerika ein solches Auto hervorbringen können. Eines, das schon durch seine schiere Größe und seinen Zierrat beeindruckt. Eines mit chrombewehrten Flossen und Flanken und den gestalterischen Symbolen des Raketen-Zeitalters. Und eines mit beinahe steinzeitlicher Technik. Außen also Rocket, innen rock-solid – in jedem Fall ist so ein 1956er Chevy Bel Air Nomad ein Auto wie eine feste Burg. Und genau da hat er indirekt auch seine Wurzeln, der nomadisierende Kombi: bei den Planwagen der Pioniere. Immer war Mobilität eine Schlüsselbedingung beim Besiedeln von Ländern und Kontinenten. Und was sich in Europa langsam vollzog, holten die USA im Zeitraffer nach.
Schwülstig, überladen? Aber nicht doch: Der Nomad repräsentiert die gediegene Eleganz der amerikanischern 1950er-Jahre.
Ihre Planwagen, zum Großteil gefertigt von den aus Deutschland ausgewanderten Brüdern Stutenbäcker, verästelten den Besiedelungsprozess der Eisenbahn ab 1840. Gelebt wurde dort, wo es Arbeit gab, vorher war man eingewandert – kurz, die US-Amerikaner waren früh gewohnt, mobil zu sein. Sie zogen um und umher, wann immer es gefordert war, und später wurde das Auto dabei zum unentbehrlichen Helfer. Addiert man zum Zwang der Mobilität den Mythos der Freiheit, wundert es nicht, warum viele amerikanische Automobile auf die Namen autonomer Tiere hören. Mustang, Cobra, Barracuda, Wildcat, Stingray, Roadrunner klingen so spannend wie einleuchtend. Der Nomad dagegen beschwört rastlose Menschen. Weil die Amis schon immer unverkrampft mit dem Kombi-Thema umgingen, konnten sie sich auch das luxuriöse Experiment eines Lifestyle-Lasters leisten.
Der schluckt was weg: Hinter der Doppel-Heckklappe tut sich ein geräumiger blauer Salon auf.
So entstanden die berühmten "Tri- Fives", die drei legendären Bel- Air-Nomad-Jahrgänge 1955, 56 und 57. Immer dreitürig, immer zweifarbig, immer chic – so, wie es ihre Namensgebung nach dem feinen Stadtteil von Los Angeles forderte, waren die Bel Air Nomad das Gediegenste, was Chevrolet an geschlossenen Fahrzeugen im Programm hatte. Golfer, Segler und Pferdesportler bildeten die Zielgruppe, freizeitaktive Menschen mit gehobenem Anspruch. Dabei lehnte sich das Massenlabel Chevy weit hinein in die Welt der Wohlhabenden, war die Marke doch so bodenständig wie hierzulande VW. Und damit der Chevy Nomad, überspitzt gesagt, fast so etwas wie ein etwas überschminkter VW 1500 Variant. Aber nur fast. Denn während die immer viertürigen "Station Wagon" auf die Gepäckkutschen amerikanischer Bahnhöfe zurückgehen und dem deutschen Handwerker-Kombi am ehesten der "Handyman Two-Door Wagon" entspricht, besticht ein Nomad bei identischem Radstand und Ladevolumen durch seine fantasievoll variierende Zweifarben-Lackierung, durch anmutige Linienführung ohne optisch beschwerende C-Säule und den Luxus, auf reine Praktikabilität verzichten zu können.
Hier wird die Last zur Lust. Erst recht beim Fahren: Hat man einmal den dürren Wählhebel der zweistufigen Powerglide- Automatik auf "D" gestakst, verfällt der 56er Nomad in einen leicht räuspernden Tonfall und ruckt an. "Das Gaspedal kontrolliert die Motorleistung und ist so konstruiert, dass es sich leicht und gefühlvoll bedienen lässt", belehrt die Original-Betriebsanleitung, vergisst aber, die Kugelumlauflenkung als direkten Gegenspieler jeglicher Vitalität zu erwähnen.
Allein, es kribbelt schon im Gasfuß. Neben jeder bürgerlichen Vernunft gab es ja auch die Halbstarken aus "... denn sie wissen nicht, was sie tun", und außerdem sind 170 Sachen Spitze für den 1,7-Tonner angegeben. Er ist also nur 200 Kilo schwerer als ein aktueller Alfa Romeo159 Sportwagon. Gedankenpause. "Blubb-Blubb- Blubb-Blubb..." – drauf! Chromgrill-fletschend wandelt der Nomad die erhöhte Spritzufuhr in Vortrieb um, injiziert für damalige Verhältnisse lachhafte 18 Liter Super in seinen Carter- Doppelvergaser und überlässt dem Fahrwerk den Takt. Vorn tänzeln die Federbeine, hinten gibt die Starrachse die Basstrommel, und will man die singenden Diagonalreifen noch vor der Kurve einfangen, setzen plötzlich um einen herum vier Trommelbremsen zum schrammenden Klagelied an, während der Chromjet an der Haubenspitze mitsamt dem Rest unbeirrt weiter geradeaus zielt. Kraft? Yeah! Kontur? No, Sir...
Dabei verhält es sich mit dem Nomad so wie mit dem Volk seiner Erbauer: Man muss ihn ein bisschen mögen, ihm zuhören und mit ihm ins Gespräch kommen, dann klappt’s. Wer solche Situationen gemeistert hat, darf sich anschließend im Laderaum des Nomad ausstrecken. Der ist immerhin genauso eben wie die legendäre Salzseenplatte von Bonneville, wo bis heute Geschwindigkeitsweltrekorde aufgestellt werden. Aber das hat nichts mit dem Geist eines Nomaden zu tun. Ihm ist Hektik per Konzept fremd. Der Nomad blieb Mode. Nach kurzer Zeit griffen die Pioniere wieder zum günstigen Station Wagon. Heute fahren sie Pick-ups. Unbegrenzte Möglichkeiten beinhalten eben auch immer die des Scheiterns.
Technische Daten
Der rote 4,3-Liter-V8 macht ordentlich Dampf. Fahrwerk und Bremsleistung gebieten aber, die Motor-Power vorsichtig zu dosieren.
1956 Chevrolet Bel Air Nomad: V8, vorn längs • eine oben liegende Nockenwelle pro Zylinderreihe, über Kette angetrieben, 2 Ventile pro Zylinder, Carter-Doppelvergaser • Hubraum 4342 ccm • Leistung 162 SAE-PS bei 4400/min • max. Drehmoment 336 SAE-Nm bei 2200/min • Dreigang-Schaltgetriebe, a.Wunsch Powerglide-Zweistufenautomatik • Hinterradantrieb • Einzelradaufhängung vorn mit Schraubenfedern, Gasdruckdämpfern, hinten Starrachse mit Blattfedern • Reifenv./h. 6.70-15 • Radstand 2921 mm • L/B/H 5100/1836/1580 mm • Leergewicht 1710 kg • Zuladung 490 kg • 0–100 km/h in 10 s • Spitze 170 km/h • Verbrauch 13–22 l S pro 100 km • Neupreis 1956: 2600 US-Dollar.
Plus/Minus
Robuste Pioniertechnik macht den Chevy Bel Air Nomad so gut wie unverwüstlich. Was doch kaputtgeht, hat der Händler um die Ecke – jedenfalls in den USA. Allgemein bietet das Auto den unverfälschten Fahreindruck der 1950er-Jahre, Diagonalbereifung vorausgesetzt. Stil und Charme des Chevy Nomad laden noch heute zum Vollladen und Losfahren ein, allerdings sollten die fahraktiven Defizite (Trommelbremsen, kein Bremskraftverstärker!) bedacht werden. Zwei Dinge sollten einem Chevy-Nomad-Eigner nicht passieren: Zusammenstöße und drastische Benzinpreiserhöhungen. Ansonsten: Let the good times roll!
Ersatzteile
Die US-Gesellschaft erfreut sich bis heute an auffälligen Statussymbolen auf vier Rädern, und wenn die mal wieder nicht rollen wollen, dann bucht man eine Audienz beim Ersatzteilgott Napa Auto Parts. Das Unternehmen hat so ziemlich alles, um ein klassisches US-Car mechanisch am Leben zu erhalten. Und selbst GM zuckt nur einmal kurz mit der Wimper, bevor günstige und passende Teile auch für alte Modelle über den Tresen wandern. Versand nach Europa ist meist möglich, kostet aber zusätzlich. Wer in Deutschland stöbert, stößt ebenso auf etliche US-Car-Teileshops. Klubs helfen hüben wie drüben bei seltenen Teilen, beim Interieur hilft im schlimmsten Fall nur eine Erneuerung durch den Sattler.
Marktlage
Exakt 7886 Chevrolet Bel Air Nomad verließen im Modelljahr 1956 die Fließbänder von St. Louis. Diese überschaubare Zahl hat sich seitdem merklich dezimiert: Die Nomad der "Tri-Five"-Zeit sind selbst in ihrem Heimatland rar, geschätzt und begehrt. In Deutschland existieren nach AUTO BILD KLASSIK-Recherche zwei Exemplare. Die Marktpreise bewegen sich kaum, haben sich zwischen 35.000 und 45.000 Euro eingependelt. Nicht nur damals also war der dreitürige Nomad Chevrolets teuerstes geschlossenes Automobil.
Empfehlung
Normalerweise gilt: Kaufe lieber ein gutes, original erhaltenes oder ein komplett restauriertes Exemplar, anstatt einen Trümmerhaufen zeit- und geldaufwendig zu reanimieren. Beim 56er Chevy Nomad ist die Frage, ob man überhaupt noch ein restaurierungsbedürftiges Auto auf dem Markt findet, denn sogar Amerikas weite Schrottplätze sind mittlerweile akribisch vom einstigen Lifestyle-Kombi gesäubert. Selbst Wracks werden noch in Gold aufgewogen, weil es der verrückte Markt hergibt.