Bei Knick Nummer zehn habe ich aufgegeben. Die vielen Ecken, Kanten und Spalten am neuen Fiesta wollte ich zählen, aber das stellt sich schnell als hoffnungsloses Unterfangen heraus. Die Seite zum Beispiel hat zwei große, parallel verlaufende Knicke. Die Motorhaube: zwei Stück links und rechts. Vorn der Raum zwischen Scheinwerfern und Nebellampen: eine leichte Linie. Selbst die Kotflügel sind nicht rund, sondern kantig. Jede Wette: Wenn die Ford-Designer gekonnt hätten, dann hätten sie auch die Räder eckig gemacht. Das alles wirkt ziemlich knickerig – und wahnsinnig mutig. Ausgerechnet ein Massenmodell so modern zu gestalten, das hätte sich nicht jeder getraut. Immerhin haben die Kölner im vergangenen Jahr in Deutschland 50.807 Exemplare des Polo- und Corsa-Konkurrenten verkauft – besser lief aus dem Ford-Programm nur der Focus mit 57.546 Einheiten. Dennoch sagt Exterieur-Chefdesigner Stefan Lamm im Interview: "Wir wollten einen Neuanfang machen und jüngere Kunden gewinnen."

Aus dem braven Hausfrauenauto soll ein Imageträger werden

Ford Fiesta
Sprich: Aus dem ehemals braven Hausfrauenauto soll ein Imageträger werden. 90 Prozent der IAA-Studie "Verve" sind dazu in das neue Serienmodell eingeflossen. Modern ist sie ohne Frage, die neue Fiesta-Generation, die im Herbst in den Handel kommt. Aber ist sie auch ein neues Schmuckstück in der Kleinwagen-Klasse? Zum Vergleich haben wir die Design-Ikonen Fiat 500 und Mini Cooper mit ins Fotostudio genommen – und waren extrem überrascht. Erster Eindruck: Wie wahnsinnig winzig wirkt der Fiat 500 im Vergleich zum Fiesta! Der ist zwar mit 3,93 Meter Länge und 1,68 Meter Breite in etwa so groß wie das aktuelle Modell, damit aber immer noch 38 Zentimeter länger als der kleine Fiat. Am stärksten zu spüren ist das auf der Rückbank – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Während ich mit meinen 1,80 Metern im Italiener mit dem Kopf kräftig gegen das Dach stoße, sind im Fiesta immer noch gute fünf bis zehn Zentimeter Luft.

Der Ford Fiesta widersteht der Versuchung zum Retrodesign

Fiat 500 Ford Fiesta Mini Cooper
Das ist vor allem deshalb so erstaunlich, weil der neue Ford seine Sportlichkeit ja auch durch das stark abfallende Dach zu gewinnen scheint. Designer Lamm verrät den Trick: Der Fiesta wird hinten gar nicht so viel flacher, wie es den Anschein hat – die coupéhafte Form gewinnt er vor allem durch die Gestaltung der Seitenfenster. Zweiter Eindruck: Wie barock wirkt der Mini im Vergleich zum Ford! Während der Mini mit seinen Rundungen gut im Futter zu stehen scheint, trägt der keilförmige Fiesta kein Gramm Fett und widersetzt sich dem Bullig-Trend der letzten Jahre. Dazu passt, dass er laut Ford sogar leichter sein soll als sein 1095 bis 1129 Kilogramm schwerer Vorgänger – man munkelt von rund zwei Zentnern Gewichtsverlust. Und während sowohl der Fiat 500 als auch der Mini mit großen, offenen Augen in die Welt schauen, guckt der Fiesta, na ja, vielleicht nicht unbedingt grimmig, aber auf jeden Fall entschlossen. Ich habe spontan an einen konzentrierten Sprinter vor dem 100-Meter-Lauf gedacht.
Beim Innenraum setzt sich das alles fort. Während seine Fotostudio-Konkurrenten durch Kippschalter (Mini) oder einen in Wagenfarbe lackierten Armaturenträger (Fiat) nostalgische Gefühle vermitteln, ist der Fiesta auch hier konsequent modern. Mir persönlich ist aber beispielsweise die Tachoeinheit, die an einen Motorradhelm mit Visier erinnert, ein bisschen zu krawallig. Und dass die "Human Machine Interface", die Bedienleiste oben auf der Mittelkonsole, von einem Mobiltelefon inspiriert sein soll, das kommentiert unser Fotochef mit der erstaunten Nachfrage: "Was für merkwürdige Handys haben denn die bei Ford?" Neu sind die elektrohydraulische Servolenkung und der Knieairbag für den Fahrer. Optional sind unter anderem ein schlüsselloses Zugangssystem, ein USB-Anschluss und eine Bluetooth-Schnittstelle zu haben.

Beim Preisniveau ist nur ein sehr moderater Anstieg zu erwarten

Ford Fiesta
Bei den Motoren gibt es zwei Neuerungen: Der Fiesta bekommt zum Start neben den bekannten 60, 80 und 91 PS starken Benzinern einen neuen 1,6-Liter-Motor, der 115 PS leistet. Zusätzlich zum 1,6-Liter-Diesel mit 90 PS soll gegen Jahresende auch noch eine "Econetic"-Sparvariante kommen, die weniger als 100 Gramm CO2 pro Kilometer ausstößt. Die Preise werden sich vermutlich gegenüber dem aktuellen Modell nicht wesentlich erhöhen – und das fängt derzeit bei 10.990 Euro an. Bleibt die Frage nach der Anzahl der Ecken und Kanten. Ich denke kurz darüber nach, ob ich Designer Lamm fragen soll, aber der reagiert schon auf meine Einschätzung "eckiges Auto" ein wenig pikiert. Belassen wir es dabei, dass es wirklich wahnsinnig viele sind – und dass sie dem neuen Fiesta ziemlich gut stehen.

Das Fazit von AUTO BILD-Redakteur Alex Cohrs

Mein Herz schlägt für den Fiat 500, meine Vernunft rät zum neuen Fiesta. Er weckt bei mir zwar nicht solche Emotionen wie der kleine Fiat (und mit Abstrichen auch der Mini), dafür bekommt man für relativ wenig Geld relativ viel Auto. Nebenbei: Den Retro-Weg hätte Ford sowieso nicht einschlagen können – dafür fehlt dem Ur-Fiesta schlicht das Image.

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Alex Cohrs